Als Myron, der bei uns in Mannheim zu Besuch ist, Kerstin und ich heute am (sehr) späten Vormittag frühstückten und ich Seite 5 der Süddeutschen Zeitung aufschlug, sagte Kerstin mit entsetztem Gesichtsausdruck: “Wie kann man sowas machen? Das darf doch nicht wahr sein. Das ist Leserverdummung.” Der Grund des Anstoßes war und ist eine Graphik, die zum Artikel “Schäuble warnt vor Jugendgewalt” gehört. Dieser berichtet von der jüngsten polizeilichen Kriminalstatistik (2007) und deren Vorstellung durch Wolfgang Schäuble und Jörg Schönbohm. Die Graphik soll dabei die Aussage unterstreichen, dass sowohl die Gewaltkriminalität insgesamt als auch die gefährliche und schwere Körperverletzung in jüngster Vergangenheit drastisch zugenommen haben (sollen). Leider verletzt sie zahlreiche Grundregeln guter Darstellung statistischen Datenmaterials. Auch leider: Sie ist nicht online verfügbar, weshalb wir sie unten auch noch einmal beschreiben.
Nachdem auch ich mich gehörig entsetzt und mein Entsetzen mit Myron geteilt hatte, schlug der vor, einen Leserbrief an die Süddeutsche zu schreiben, was wir dann — mehr oder weniger zu dritt — auch getan haben. Zu guter Letzt haben wir auch eine Graphik erstellt, die, unserer Ansicht nach, wesentlich besser geeignet ist einen solchen Artikel zu flankieren. Diese kann man hier als pdf herunterladen. Den Leserbrief kann man hier nachlesen:
Der Artikel “Schäuble warnt vor Jugendgewalt” in der SZ vom 23. Mai 2008 nutzt zur Darstellung der Entwicklung der Jugendkriminalität eine Graphik. Sie zeigt die Entwicklungen der Gewaltkriminalität sowie der gefährlichen und schweren Körperverletzung bei Jugendlichen (14-18 Jahre) in den Jahren 2006 und 2007 als prozentuale Veränderung zum Vorjahr. Sowohl für Gewaltkriminalität als auch für schwere Körperverletzung sind jeweils zwei Balken (einer für 2006, einer für 2007) zu sehen, die die prozentuale Veränderung zum Vorjahr visualisieren. Bei der Gewaltkriminalität ist ein Anstieg von 0,7 Prozent von 2005 auf 2006 und von 4,9 Prozent von 2006 auf 2007 abgebildet. Die Darstellung zur schweren Körperverletzung zeigt Anstiege von 3,0 Prozent (2005 auf 2006) und 6,3 Prozent (2006 auf 2007). Diese Darstellung ist aus unserer Sicht sehr problematisch.
Erstens ist die Verwendung von prozentualen Veränderungen statt bzw. ohne ergänzende absolute Zahlen irreführend, insofern als (sehr) unterschiedliche (absolute) Ausgangsniveaus bei und nur bei (sehr) unterschiedlicher Veränderung in absoluten Zahlen zu gleichen prozentualen Veränderungen führen. Konkret: Die gegenübergestellten Balken für die Veränderungen von 2005 auf 2006 und 2006 auf 2007 sind schwer vergleichbar, weil sich das Ausgangsniveau verändert (hier: erhöht) hat. Gleichhohe Balken prozentualer Zuwächse bedeuten mitnichten — mit Ausnhame eines Nullzuwachses — einen gleichhohen absoluten Zuwachs oder eine gleichhohe Abnahme. Die hier gewählte Darstellung suggeriert leider genau dies. Zudem ist der Anstieg um 6,3 Prozent bei schwerer Körperverletzung möglicherweise ein sehr geringer Anstieg in absoluten Zahlen, sodass die gesellschaftspolitische Relevanz möglicherweise viel geringer ist, als die Darstellung vermuten lässt.
Zweitens gewinnt eine solche Graphik enorm an Erkenntniswert, wenn sie Informationen über einen längeren Zeitraum wiedergibt. Nur so sind längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen erkennbar und in ihrer Bedeutung beurteilbar. Die hier ausgewählten Veränderungen im Zeitraum 2005 bis 2007 sind ungeeignet, um kurzfristige Ausreißer von anhaltenden Trends zu trennen.
Die von uns erstellte Graphik löst die angesprochenen Probleme, indem sie absolute Zahlen über einen längeren Zeitraum darstellt. Sie zeigt, dass es sich bei der (schweren) Gewaltkriminalität durch Jugendliche tatsächlich um ein ernstzunehmendes Problem handelt, das über die letzten Jahre stetig zugenommen hat. Sie kann hier als pdf heruntergeladen werden: https://sewenz.files.wordpress.com/2008/05/sz_graphik_leserbrief.pdf
Unser Leserbrief wurde in der SZ vom 29. Mai nebst SZ-Originalgraphik UND einer Version, die unserem Vorschlag nachempfunden ist, gedruckt.
Schade ist, dass die Veröffentlichung sich auf die Bayern-Ausgabe beschränkte — die SZ druckt Leserbriefe ja leider nicht täglich in der deutschlandweit vertriebenen Ausgabe. Warum eigentlich nicht?